Der Ensanche in Barcelona.

Die Entwicklung seit dem Plan von Ildefonso Cerdà, Baumeister 83:1986(4)64-67

Von Andrea Mesecke

Der Ensanche (katalan.: Eixample = Erweiterung) ist heute das zentrale Stadtquartier Barcelonas. Seine Attraktivität beruht wesentlich auf dem überwältigenden Bestand an katalanischer Jugendstilarchitektur, dem Modernismo. Das uniforme Schachbrettsystem der Stadterweiterung aus dem 19. Jahrhundert bleibt jedoch nach wie vor heftiger Kriktik ausgesetzt, denn auch imposante Fluchten und unendlich erscheinende Baumreihen in den schnurgerade verlaufenden Straßen trösten nicht über die Monotonie eines egalitären Konzepts hinweg. Als Wohngebiet eignet sich der Ensanche mit seinem überlasteten Straßennetz im Einbahnsystem nur für Großstadtbesessene, die Lärm und bleischwere Luft wohl in Kauf nehmen für das Privileg, in Zentrumsnähe zu wohnen. Doch trotz des starken Unwillens, den das ursprüngliche Projekt hervorrief, bleibt es ein grandioses Zeugnis des modernen Städtebaus aus einer Epoche, die mit der industriellen Entwicklung unsere Großstädte hervorbrachte.

 Luftbild, 1928 Luftbild, 1928

Der heutige Ensanche entspricht mit 745,2 ha nur knapp zwei Dritteln der 1859 geplanten Stadterweiterung. Der nordöstliche Abschnitt des damaligen Projektes wurde während der Diktatur General Francos unter Einhaltung des Rechtecksystems durch gigantische Wohnsilos zum Vorboten der periphären Trabantenstädte Barcelonas. Verhältnismäßig schwach besiedelt blieb dagegen bis heute der authentische historische Teil des Ensanche, der nur von einem Sechstel der Barceloneser Gesamtbevölkerung bewohnt wird (1984 waren dies etwa 307 800 Menschen) und trotz wiederholter Gebäudeaufstockungen kaum eine Zunahme der Einwohnerdichte von 1900 erfuhr. Die gegenwärtig sinkende Einwohnerzahl sowie die zu beobachtende Überalterung sind den hohen Mietpreisen bei mangelnder Wohnqualität im anonymen Häusermeer zuzuschreiben. Die Bedeutung dieses Stadtquartiers für kommerzielle Aktivitäten nimmt allerdings zu. 600 000 Fahrzeuge befahren den Ensanche Tag für Tag, 300 000 Bürger haben ihren Arbeitsplatz an diesem Ort.

Das Wachstum der Großstadt hatte schon zu Beginn dieses Jahrhunderts über das Stadterweiterungsgebiet hinausgegriffen und damit die progressistische Intention des Urhebers spätestens 50 Jahre nach Entstehung zunichte gemacht.

Eingeleitet wurde die Erweiterung der auseinanderberstenden Stadt Barcelona im Jahre 1854 mit dem Einriß der gotischen Befestigung. Der erste spanische Generalstreik im darauffolgenden Jahr gab dem sozialpolitisch engagierten Straßenbauingenieur und Theoretiker Ildefonso Cerdà Anstoß zur Erstellung verschiedenster Statistiken und Studien über die Lebensbedingungen in der industrialisierten Gesellschaft. Mit seinem dreibändig angelegten Hauptwerk, der "Allgemeinen Theorie über die Urbanisierung und Anwendung ihrer Prinzipien und Lehren bei der Erneuerung und Erweiterung von Barcelona" (1867), sind uns die technischen Lösungen dieses Stadtplaners überliefert. Der Schrift entnimmt man nicht nur eine gründliche Kenntnis der Theorien englischer und französischer Utopisten, Hygieniker und Ökonomen, sondern auch eine enorme Aufgeschlossenheit gegenüber dem technischen Fortschritt. Der dritte Band der Studie, in dem man eine Erläuterung über das Funktionieren des Gemeinschaftslebens vermuten könnte, ist bedauerlicherweise verschollen oder gar niemals geschrieben worden. Unklar bleibt auch Cerdàs Vorstellung von der Ansiedlung der Produktionsbereiche Industrie und Agrarwirtschaft.

 Plan Cerdà, 1859 Plan Cerdà, 1859

Cerdà entwickelte technische Lösungen für politische und soziale Probleme, deren Ursache er in der städtischen Konzentration, den katastrophalen hygienischen Verhältnissen, der Bodenspekulation und dem Fehlen einer auf allgemeine Interessen gerichteten Planung sah. Der Plan Cerdà, sein Projekt für die Stadterweiterung, mit dem er demokratischen Vorstellungen entsprechen wollte, wurde von einer vorübergehenden liberalen Regierung im Mai 1860 zur Ausführung bestimmt. Damit widersprach die spanische Zentralregierung den bürgerlich-katalanischen Interessen und setzte sich über den lokalen Wettbewerbsbeschluß aus dem Jahr 1858 hinweg. Dieser Beschluß befürwortete einen barocken, radial um die mittelalterliche Stadt angeordneten Plan von Antonio Rovira i Trias. Als Folge entstand eine niemals beschwichtigte feindselige Haltung gegenüber Cerdàs Vorhaben. Das rational strukturierte "ideale" System des Theoretikers widersprach mit seinen egalitären Prinzipien jeder bürgerlichen Vorstellung von privatem Grundbesitz und war folgerichtig von Beginn der Durchführung im Jahre 1860 an gröbsten Modifizierungen ausgesetzt.

 Plan Rovira i Trias, 1859 Plan Rovira i Trias, 1859

Der Ensanche stellt die Verbindung zwischen dem historischen Barcelona am Hafen mit den umliegenden Ortschaften dar. Starke Geländeerhebungen bilden eine natürliche Begrenzung, die in dem undifferenzierten und quadratisch angelegten Straßennetz jedoch nicht berücksichtigt wurden. Die Situierung des Rasters folgt den axialen Vorgaben des alten Stadtgebildes und den Anforderungen Cerdàs an Raum und Licht, denen zufolge eine direkte Ausrichtung der vorgesehenen Häuserfronten nach Norden ausgeschlossen wurde. Ausgehend von den Tangenten der ehemals befestigten Stadt schuf Cerdà ein rechtwinkliges gleichschenkliges Dreieck, dessen Katheten auf dem Meridian (Avenida de la Meridiana) und parallel zum Äquator (Avenida del Paralelo) angelegt sind, ihr Schnittpunkt liegt im Hafenbecken. Die Hypotenuse bildet die quer durch das gesamte Stadterweiterungsgebiet verlaufende Hauptachse (Gran Vía), zu der alle weiteren Straßen parallel oder rechtwinklig verlaufen. Auch der alte, ungeordnete Stadtkern sollte mittels drei rigoroser rechwinkliger Einschnitte in dieses System integriert werden. Abweichend faßt die das gesamte Gebiet diagonal durchkreuzende Avenida Diagonal - mit der seinerzeit als geographische Mitte geplanten Plaza de las Glorias im Schnittpunkt mit der Avenida de la Meridiana - die additive Struktur zu einer Gesamtkomposition zusammen.

 Paseo de Gracia, um 1905 Paseo de Gracia, um 1905 (hist. Postkarte)

Das Rechteckschema sollte den fließenden Stadtverkehr gewährleisten, dem Cerdà mit optimistischem Fortschrittsglauben entgegensah. Er war besessen von der Revolution des Transportwesens und bezog sowohl die Eisenbahn als auch das zukünftige dampfbetriebene Privatgefährt in die Planung ein. Doch nicht nur die Technik, sondern zahlreiche soziale Einrichtungen wie auch großzügige Erholungsmöglichkeiten waren Bestandteil des Projekts. Von jedem Punkt der Stadt aus sollte der nächstgelegene Park nach höchstens 1500 Metern erreicht sein. Zusätzlich sollte eine etwa 3,5 x 1 km große Grünanlage am Ufer des Besòs im Nordosten der Stadt Zerstreuung bieten. Ihm war nicht daran gelegen, das Land zu urbanisieren, sondern die Stadt zu ruralisieren und dialektisch den Gegensatz zwischen Stadt und Land zu überwinden.

Cerdà glaubte an die ideale menschliche Gemeinschaft und an die zunehmende Bedeutung der Arbeiterklasse. Die künstlich reglementierte unterschiedslose Gesellschaft, wie sie von den Sozialutopisten Owen und Fourier propagiert wurde, wollte er jedoch nicht. Im Netz der großen Avenidas entwarf er das Stadtviertel als überschaubaren Teil des Gesamtkomplexes, gleichberechtigt und in sich funktionierend aufgrund der Dezentralisierung öffentlicher Gebäude, der Kirchen, Markthallen, Theater, Asyle, und der vielfältigen Bebauungsmuster, die auf die unterschiedlichen Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse aller Altersklassen, Geschlechter und Berufsstände ausgerichtet waren.

 Häuserblock mit Passageneingang, 1864 Häuserblock mit Passageneingang, 1864

Diese Einrichtungen verstand Cerdà als integralen Bestandteil der ca. 550 Blocks. Deren Seitenlänge war von ihm auf 113,33 Meter festgelegt, plus 20 Meter für die Straßenführung. Im Bereich der großen Straßenzüge verkürzte sich die Seitenlänge um 30 bzw. 50 Meter. Als Haustypen waren das freistehende Einfamilienhaus, das ein- und zweigeschossige Reihenhaus und das vielgeschossige Mehrfamilienhaus vorgesehen.

Sowohl die freie als auch die geschlossene Bebauung sollte sich auf zwei gegenüberliegende Seiten des Gevierts beschränken. Die Mittelfläche sollte begrünt und von einem Fußweg geteilt sein. Eigentümlich ist dabei die Idee der heute noch überlieferten Abschrägungen der Grundstücke an allen vier Ecken auf eine Länge von 20 Metern. Diese Eigentümlichkeit läßt die Straßenkreuzungen trotz vollständiger Bebauung licht wirken.

Cerdàs idealistische Zukunftsvision, anders als im Falle Paris oder London auf das freie Hinterland der historischen Stadt projiziert, ist eine vorweggenommene Formulierung der späteren Gartenstadtbewegung, die nicht zuletzt an der Ignorierung privater Interessen und dem unerwartet schnellen Anwachsen der Bevölkerung scheiterte. Das heutige Barcelona entspricht nicht mehr dem Plan Cerdà, doch läßt sich die anhaltende Kritik am Urheber des Ensanche und seiner "städtebaulichen Gewalttat" durch die Betrachtung der fast hundertjährigen Entwicklung dieses Stadtgebiets entkräften. Die Berücksichtigung der politischen und sozioökonomischen Problematik des 19. Jahrhunderts bei der städtebaulichen und architektonischen Interpretation zeigt, daß der Ensanche nicht das Werk eines Einzelnen sein konnte, sondern das Resultat eines komplizierten gesellschaftlichen Umwandlungsprozesses ist, der die widersprüchlichen Ideale und Ängste der entstehenden Industriegesellschaft widerspiegelt.

Während das Straßennetz mit geringen Einschränkungen nach Cerdàs Vorstellungen verwirklicht werden konnte - obwohl er das erste umfassende topographische Kartenwerk Barcelonas erstellte, machte Cerdà in seinem städtebaulichen Konzept keine Konzessionen an die landschaftlichen Vorbedingungen -, mußte das Bebauungsmodell an den realen sozialen Machtverhältnissen Schiffbruch erleiden. Bereits 1863 veranlaßte die neue konservative Regierung den Stadtplaner zu eingreifenden Modifizierungen. Die Struktur des Erweiterungsgebietes wurde durch Dezimierung der öffentlichen Bauten aufgehoben und die Blocks auf drei Seiten bebaut. Cerdà versuchte nun durch Anordnung neuer Modelle in der Disposition der Blocks einen rein kompositiven Wert zu schaffen. Der erste Entwurf für einen Häuserblock mit der heute noch erhaltenen Passage Permanyer von Geroni Granell i Barrera aus dem Jahr 1864 ist bereits auf die größere bauliche Nutzung des Innengrundstücks ausgerichtet.

 Einfamilienhaus, Aufriss, Grundriss, 1860        Mehrfamilienwohnhaus, Grundriss, Aufriss, 1902
a) Einfamilienhaus, Aufriss, Grundriss, 1860 - b) Mehrfamilienwohnhaus, Grundriss, Aufriss, 1902

Wenn auch außer der Grundfläche der Gebäude keine architektonische Vorstellung Cerdàs überliefert ist, so nimmt man doch an, daß die frühen Bauten der damals nichtakademischen Baumeister eine Annäherung darstellen. Die fünfgeschossigen Mehrfamilienhäuser hinter klassizistischen Fassaden waren zwar nach sozialen Klassen abgestuft, der Ausbau des Piano nobile mit separatem Treppenaufgang für den Hauseigentümer aber war eine Schöpfung des bürgerlichen Modernismo ab 1890. Das Erdgeschoß, und so realisiert man es heute noch, diente Geschäften, Büros und Werkstätten und war mittels gußeiserner Säulen räumlich hervorragend ausgenutzt. Als typisches Kompositionsmittel für die Hoffassaden gelten die Galerien auf allen Stockwerken, charakteristisch sind auch die gläsernen Dachaufbauten über dem Treppenschacht.

Den freistehenden, meist repräsentativen, doch platzraubenden Einfamilienhäusern war die geringste Lebensdauer gewährt. Schon bald entwickelte sich im ökonomischen Reichtum der 1870er Jahre unter dem Aspekt eines rein ästhetischen Progressivismus die protzige Fassadenarchitektur des Eklektizismus und späteren Jugendstils auf den tradierten Grundrissen der mehrstöckigen Wohnhäuser. Während Barackenviertel an der Peripherie zur Wirklichkeit für die Industriearbeiter wurden, verschwanden im Ensanche die Grünflächen unter eingeschossigen Gewerbebauten inmitten der an allen vier Straßenseiten geschlossenen Häuserblocks. Nunmehr betrug die ursprünglich auf 20 Meter ausgelegte Bautiefe 28 Meter. Den Willen, mit der Typologie dieser Häuserblocks zu brechen, zeigten erst die Architekten des Modernismo um die Jahrhundertwende. Eine Neuorganisation der inneren Distribution erfolgte jedoch weitaus später mit dem Wirken der Moderne in den 1930er und dann wieder in den 1960er Jahren.

 Baumassenverdichtung Schematische Darstellung der Baumassenverdichtung bis Ende 20. Jahrhundert

Das Bauvolumen der Blocks hatte sich bis dato von 67.200 m³ auf 294.771 m³ erhöht. Geblieben ist mit den immerhin überwiegenden Wohnhäusern des späten Klassizismus und des Modernismo die mangelhafte Wohnqualität, die sich in den Grundrissen infolge der enormen Bautiefe mit zentralen Treppen, dunklen Fluren und engen Luft- und Lichtschächten abzeichnet. Sanitäre Anlagen waren bis zur Jahrhundertwende trotz Cerdàs Anspruch an die Hygiene so gut wie nicht vorhanden, und der Bau der Kanalisation gegen 1900 wurde nur zaghaft in Angriff genommen. Damals wuchs der Unwille gegen den Plan Cerdà um so mehr, da sich die bürgerliche Gesellschaft erneut einer Stadtplanung zuwandte, die sich an den Vorstellungen Camillo Sittes von der repräsentativen, malerischen und symmetrischen Stadt orientierte - "Der Städtebau" von C. Sitte erschien im Jahre 1902 in französischer Sprache. "Diese neue, ach so moderne Stadt ist eines der größten Grauen dieser Welt, höchstens vergleichbar mit den biederen Städten Südamerikas...", kritisierte 1901 der katalanische Architekt und Politiker Josep Puig i Cadafalch das Rastersystem als Ausdruck "der heiligen Demokratie und der heiligen Geichheit, gleich für alle und ohne Anziehungspunkte". Vergessen war bereits, daß nicht der in Armut verstorbene Cerdà dieses Ungetüm gewollt hatte, daß seine großzügige Planung zwar von geometrischer Rationalität geprägt und von erschlagender Nüchternheit war, daß seine Intention aber, mittels kleiner Zellen - sprich Stadtteile - die Anonymität und Beziehungslosigkeit der bloßen additiven Wiederholung auszuschließen, doch vergleichsweise humaner und modern war.

Jetzt, da sich Industrialisierung und Modernität mit allen Konsequenzen nicht nur als vorteilhaft offentbarten, rief man wieder nach Natur und floh an die privilegierten Hänge der Großstadt. Der katalanischen Gartenstadtbewegung zugunsten einfacher Arbeiter und Angestellter war andererseits kein langes Bestehen gewährt. Trotz zunehmender sozialer Unruhen hielt die konservative Machtelite an ihren Privilegien fest und stürzte sich zu ihrer Rettung in die Diktatur General Primo de Riveras. Während der zeitweilig sozialistisch geführten Zweiten Republik, 1931-39, griff der international berühmte Stadtplaner Le Corbusier zusammen mit den katalanischen Repräsentanten der CIAM (GATCPAC) den Plan Cerdà wieder auf. Der vom Frankismus verhinderte Plan Macià hätte die geometrische, überdimensionale Ausweitung der Stadt nach dem bekannten Muster Le Corbusiers durch Zoneneinteilung und schnelle Verkehrsverbindungen bedeutet.

 Plan Macià, 1934 Le Corbusier und GATCPAC, Plan Macià, 1934

Auch im auslaufenden 20. Jahrhundert bleibt das dominierende Element im Ensanche der gleichförmige Raster mit seiner regelmäßigen Bebauung. Der betäubende Charakter einer bloßen "Erweiterung" ohne Eigendynamik wird durch die außerordentliche Dimension noch verstärkt, die räumliche Beziehungslosigkeit um so bedrückender. Bei fehlenden Freiräumen und ungelösten Verkehrsproblemen dienen bezeichnenderweise die Verkehrsknotenpunkte der optischen Orientierung.

Nur dort, wo schon Cerdàs Planung halt gemacht hatte, an den Rändern der Altstadt und den angegliederten Vororten, findet man im urbanen Anarchismus Individualität. Bauliche Einzellösungen mußten für die räumlichen Situationen gefunden werden, in denen die Quadrate zu asymmetrischen, polygonalen Grundflächen zerstückelt wurden. An der großen Avenida Diagonal allerdings findet man wieder geordnete Unregelmäßigkeit in der Wiederholung der zerteilten Blocks. Dem Fußgänger bereitet diese palmenbestandene Prachtstraße ein schieres Hindernisrennen aufgrund komplizierter Verkehrskreuzungen, die einen kontinuierlichen Zickzackgang von Ampel zu Ampel erforderlich machen.

Nachdem heute in den Industriestaaten das Zeitalter der wachsenden Städte vorüber ist (und die landschaftliche Zersiedelung unaufhaltsam fortschreitet), hat der Architekt und ehemalige Baudezernent Oriol Bohigas einen neuen Urbanismus in Barcelona angesagt und eingeleitet. Die stolze Hafenmetropole, altersschwach im historischen Stadtkern und ohne homogene Strukturen in den jüngeren Randbezirken, zeigt bereits erste Spuren einer sorgfältigen Modernisierung. Nicht nur durch das beliebte Abwaschen der Fassaden, sondern durch einfühlsame Sanierung und Platzgestaltung, liebstes Kind spanischer Städtebauer, erhalten auch die Schandflecken Barcelonas freundlichere Züge.

Für den Ensanche wurde 1983 mit dem Plan General Metropolitano eine Studie erarbeitet, die deutlich zeigt, wie wenig Spielraum für die Verbesserung der Wohnqualität in diesem Bezirk besteht. Die Konservierung der Gesamtstruktur ist Bedingung, denn der Ensanche als Teil der Identität Barcelonas soll seinen Charakter in der rhythmischen Abfolge von Ecken und Straßen und der visuellen Kontinuität in der Bebauung beibehalten. Vorschläge zur Verbesserung des Stadtquartierss richten sich auf die Wiedergewinnung der Innenhöfe als Grünflächen für die öffentliche bzw. halböffentliche Nutzung durch die Anwohner sowie die versorgende Ausstattung und Sanierung der noch intakten alten Gebäude. Für die Neubauten wird eine baulich-ästhetische Regelung angestrebt, um die Homogenität des Straßenbildes zu gewährleisten. Ausgediente Zentren wie der alte Nordbahnhof, der Schlachthof, das ehemalige Gefängnis sollen als Erholungs- und Kulturstätten wiedergewonnen werden. Den Straßenverkehr und -lärm wird man allerdings nicht so einfach beseitigen können, wenn auch der Ausbau des Untergrundbahnnetzes und der seit einem Jahrzehnt unterirdisch verlaufende Eisenbahnverkehr beachtliche Verbesserungen gebracht haben.

Bestehen bleibt der Ensanche, dessen extravagante Architektur von den traditionsbewußten Katalanen geliebt und gepflegt wird, unwiderruflich in festen Regeln verhaftet, das unerschütterliche monumentale Denkmal einer widersprüchlichen Epoche.

© Andrea Mesecke 1986

Nachbemerkung:
1986 erfuhr Barcelona durch den Zuschlag für die Olympischen Spiele 1992 einen enormen Antrieb für städtebauliche Maßnahmen. Insbesondere die Errichtung des Olympischen "Dorfes" an der Stelle eines überalterten Gewerbegebietes bot Gelegenheit, mit der "ererbten" Blockstruktur zu experimentieren. Trotz der nicht unberechtigten Kritik an "künstlichen" Städten im allgemeinen wie hier im besonderen, konnten zeitgemäße positive Ergebnisse erzielt werden.
Einen weiteren städtebaulichen Anschub erhielt Barcelona anläßlich der Ausrichtung des Weltkulturforums 2004. Mit dem Ausbau der Avenida Diagonal Richtung Osten über die Plaza de las Glorias hinaus bis hin zum Fluß Besòs (wie von Cerdà ursprünglich geplant) - wo unweit vom Meer das Zentrum für das Weltkulturforum errichtet wurde - und der flächendeckenden Bautätigkeit zur Schaffung von Wohnungen auf den umliegenden Industriebrachen wurde der nicht realisierte Teil des Plans von Cerdà in quadratischer Blockstruktur modern umgesetzt. Den Event-Charakter des Weltkulturforums 2004 unterstreicht allerdings die Tatsache, dass ökonomische Interessen und kurze Bauzeiten zur Vernachlässigung der langfristigen stadtplanerischen Aufgaben und notwendigen Sanierung von Problemzonen führen. (A.M. 11.2004)

Literatur:
Ildefonso Cerdà: Teoría general de la urbanización y aplicación de sus principios y doctrinas a la reforma y ensanche de Barcelona, Madrid 1867 (Neuauflage: Barcelona 1968).
M. Galera, F. Roca, S. Tarragó: Atlas de Barcelona. Siglos XVI al XX, Barcelona 1973, 2. Auflage 1982.
El Ensanche. Exposición del Estudio del Ensanche de Barcelona, Laboratorio de Urbanismo, Barcelona, Septiembre 1983.
Cerdà. Pionero del urbanismo moderno, Madrid 1998.
1999. Urbanismo en Barcelona, Ajuntament de Barcelona, Barcelona 1999.

Abbildungen:
Archivo Histórico del Colegio de Arquitectos de Catalunya (COAC)
 

—^