"Wenn die Legitimität idealstädtischen Sehnens
und Denkens generell in Frage gestellt wird, so wird zugleich
die freiheitliche Gesellschaft in Frage gestellt." Dieses
Leitmotiv für utopisches Entwerfen im Städtebau
erfährt natürlicherweise Kritik und bedarf der Diskussion.
Seine kategorische Ablehnung allerdings, die damit begründet
wird, daß das Ende des real existierenden Sozialismus
jede Utopie, also auch die architektonische, habe hinfällig
werden lassen, verlangt nach einer grundsätzlicheren
Klärung des Utopiebegriffs. Denn sie legt zunächst
einmal nahe, daß wir in unserer heutigen Gesellschaft,
von der wir annehmen, daß sie freiheitlich ist, auch
ohne Utopie auskommen können. Aber sie läßt
ebenso die fragwürdige Schlußfolgerung einer enttäuschten
Linken erkennen, deren Hoffnungen gemeinsam mit dem politischen
System im ehemaligen Ostblock zusammengebrochen sind - obwohl
sich bereits im Marxismus das Problem "Utopie" erledigt
hatte, da die Wissenschaftlichkeit des Sozialismus das Ende
der Utopie bedeutete und diese damit ihre eigentliche Dimension
verlor. (15/S.23f.)
So gesehen müßte Utopie
als irrationales Phänomen heute wieder eine Chance haben;
nicht nur nach dem Scheitern des praktizierten Staatssozialismus,
sondern ebenso im Angesicht eines perspektivlosen technik- und
wachstumsorientierten Pragmatismus in der Marktwirtschaft. Wenn
man unter Utopie eine Gegenwelt zur realen Welt versteht, sollten
wir sogar davon ausgehen, daß sich beide Ideale, Sozialismus
und Kapitalismus, wieder erneuern und verändern werden,
weil sie sich nämlich einander bedingen, und weil sie sich,
indem sie sich fortwährend bekämpfen, einander befruchten.
Utopie ist dynamisch, sie bewirkt einen Prozeß und fördert
die Entwicklung der Menschheit.
Gegenüber der alltäglichen Zerstörung und
dem Leiden auf unserer Erde stehen viele von uns sprachlos,
ohnmächtig und resigniert da; kaum etwas scheint sich
zwischen gestern und heute verändert zu haben. Es drängt
sich der Eindruck auf, der Unterschied zwischen Utopie und
Pragmatik liege darin, daß die Pragmatiker sich beharrlich
weigerten, die Probleme zu lösen, während die sogenannten
Utopisten nicht zum Zuge kommen. Eine Utopie verkörpert
ein Ideal, das man zwar anstrebt, aber offenbar niemals erreicht.
Sie ist eine Kraft, ein Antrieb, eine Hoffnung, eine Inspiration,
ein Traum, irdisches Glück. Sie ist dazu da, die Realität
zu befruchten, sie anzuregen und anzutreiben.
Wenn das tatsächlich so ist, wie kommt es dann, daß
Utopie von vielen Menschen negativ empfunden wird, als "Phantasterei
mit bedrohlichem Aspekt"? Wieso sieht man in der Realisierung
oder angenommenen Realisierung so mancher Utopie Unmenschlichkeit,
ja eine Horrorvision? Wäre eine Menschheit ohne Utopie
wirklich humaner?
Utopie wird im allgemeinen als ein "in Gedanken konstruierter
idealer Zustand menschlichen Zusammenlebens" definiert.
(12) Die jüngere,
aus der Utopie hervorgegangene Ideologie bezieht sich im Gegensatz
zu einem solchen Wunschdenken auf die konkrete geschichtliche
Zukunft, die mit dem wissenschaftlichen Anspruch der "einzigen
Wahrheit" angesteuert wird. Utopien und Ideologien sind
also alle jene unwirklichen oder transzendenten Vorstellungen,
die mit der konkret geltenden, als wirklich bestimmbaren Lebensordnung
nicht zusammenfallen.
Doch Utopien unterscheiden sich gemäß Karl Mannheim
insofern von Ideologien, als es ihnen gelingt, die bestehende
historische Wirklichkeit durch Gegenwirkung in der Richtung
der eigenen Vorstellung umzuformen. Ideologien seien hingegen
jene Vorstellungen, die de facto niemals zur Verwirklichung
gelangen; denn würden sie auch häufig zu Motiven
des Handels einzelner, so würden sie doch meist ihrem
Sinngehalt nach bei der Umsetzung verbogen. Sie repräsentieren
eine unechte Weltanschauung aus subjektiven Werturteilen,
die aus materiellem oder politischem Interesse in der objektiven
Form als wissenschaftliche Erkenntnis mit dem Anspruch auf
Wahrheit und Alleingültigkeit ausgesprochen werden. (7/S.171)
Dieses moderne Verständnis des Ideologiebegriffs bringt
die Erkenntnis zum Ausdruck, daß herrschende Gruppen
in ihrem Denken so intensiv mit ihren Interessen an eine Situation
gebunden sein können, daß sie schließlich
die Fähigkeit verlieren, bestimmte Tatsachen zu sehen,
die sie in ihrem Herrschaftsbewußtsein verstören
könnten. In dem Wort Ideologie ist also implizit die
Einsicht enthalten, daß in bestimmten Situationen das
kollektive Unbewußte gewisser Gruppen die wirkliche
Lage der Gesellschaft unerkannt läßt und damit
stabilisierend wirkt. Eine ideologische Orientierung wäre
somit, sich an wirklichkeitsfremden Faktoren zu orientieren,
aber dennoch auf die Verwirklichung bzw. die stete Reproduktion
der bestehenden Lebensordnung hin zu wirken. In diesem Sinne
hat sich der Begriff "Wachstumsideologie" eingebürgert.
Im Begriff des utopischen Denkens spiegelt sich die entgegengesetzte
Erkenntnis wider, daß nämlich bestimmte unterdrückte
Gruppen geistig so stark an der Zerstörung und Umformung
einer gegebenen Gesellschaft interessiert sind, daß
das von Wunschvorstellungen und dem Willen zum Handeln beherrschte
Unbewußte bestimmte Aspekte der Realität nicht
erkennt. Doch im Gegensatz zur Ideologie wirkt die Utopie
nicht stabilisierend, sondern als Anregung zum Handeln. Das
heißt, daß nur jene die Wirklichkeit transzendierende
Orientierung als utopisch gilt, die, sobald sie umgesetzt
wird, die jeweils bestehende Ordnung teilweise oder ganz sprengt.
(7/S.36f.)
Das Wort Ideologie selbst bezeichnete ursprünglich die
Lehre von den Ideen. Ideologen nannte man die Anhänger
einer bestimmten philosophischen Schule in Frankreich während
des 17. Jahrhunderts. Der Begriff der Ideologie im modernen
Sinne entstand erst in dem Augenblick, als Napoleon eben diese
Philosophengruppe in verächtlichem Sinne "Ideologen"
schalt. Hierdurch bekam das Wort zum ersten Mal seine herabsetzende
Bedeutung, die es bis heute beibehalten hat. Mit der "Verachtung"
wird das Denken des Gegners entwertet und als "Irrealität"
abgetan. Demnach liegt der Zugang zur Wirklichkeit allein
im Handeln, an dem gemessen das Denken von geringer oder gar
keiner Bedeutung ist. Der hiermit propagierte Pragmatismus
gehört inzwischen zur "natürlichen" Weltanschauung
des modernen Menschen. Die Philosophie ist zur Hilfswissenschaft
degradiert; sie formuliert sozusagen nur noch die "Idee"
des bereits Vollzogenen.
Indessen stützt jede gesellschaftliche Entwicklung sich
auf "rationalisierte Gebiete" und auf einen Handlungs-
oder "irrationalen Spielraum". (7/S.99)
Handlungsmöglichkeiten im Sinne von Eigenverantwortung
und Risikobereitschaft sind erst dort geboten, wo der noch
nicht rationalisierte Spielraum anfängt, das heißt,
wo nicht regulierte Situationen zur Entscheidung zwingen.
Diesen Spielraum findet man im irrationalen Kampf um Machtkompetenzen,
beispielsweise in der freien Konkurrenz der Marktwirtschaft
und im klassenmäßig aufgebauten sozialen Gefüge.
Hier kommt das nicht organisierte, nicht rationalisierte Leben
zur Geltung, in dem Handeln und Politik nötig und möglich
werden. Von hier aus strahlen und gestalten sich auch alle
jene tieferen Irrationalismen, die unsere innerste Erlebnissphäre
erfüllen. Hier ist der Ort für Veränderungen.
"Für die Zukunft ergibt sich [daraus], daß
eine absolute Utopie- und Ideologielosigkeit prinzipiell zwar
möglich ist in einer Welt, die gleichsam mit sich fertig
geworden ist und sich stets nur noch reproduziert, daß
aber die völlige Destruktion der Seinstranszendenz in
unserer Welt zu einer Sachlichkeit führt, an der der
menschliche Wille zugrunde geht... Während der Untergang
des Ideologischen [allerdings] nur für bestimmte Schichten
eine Krise darstellt und die durch Ideologieenthüllung
entstehende Sachlichkeit für die Gesamtheit immer eine
Selbstklärung bedeutet, würde das völlige Verschwinden
des Utopischen die Art der gesamten Menschwerdung transformieren.
Das Verschwinden der Utopie bringt eine statische Sachlichkeit
zustande, in der der Mensch selbst zur Sache wird." (7/S.224f.)
Wie Utopien und Ideologien tatsächlich wirken, zeigt
die Entwicklung der Geschichte. Jede Entwicklungsphase war
stets von Vorstellungen begleitet, die die jeweilige Realität
transzendierten. Da sie aber in das entsprechende Weltbild
"organisch" eingebaut waren, wirkten sie zunächst
nicht als Utopien, sondern als Ideologien. Beispielsweise
gelang es der feudal und kirchlich organisierten mittelalterlichen
Ordnung, paradiesische Verheißungen auf einen geschichtstranszendenten
Ort, ins Jenseits, zu verbannen und ihnen dadurch den revolutionären
Impuls zu nehmen, denn diese Gehalte gehörten noch zu
dieser Ordnung. Erst als bestimmte aufbegehrende Menschengruppen
solche Wunschbilder zu verwirklichen bestrebt waren, wurden
diese Ideologien zu Utopien.
Auch Wunschträume haben von jeher das historische Geschehen
begleitet. Sie bilden den Fluchtraum für die vom wirklichen
Leben nicht befriedigten Phantasie, ohne die zersetzende Wirkung
von Utopien zu besitzen. Allerdings erwächst die leitende
Utopie einer Gesellschaftsgruppe häufig der Sehnsucht
und Träumerei eines vereinzelten Individuums, bevor sie
später in das politische Wollen breiterer Schichten aufgenommen
wird. Die Empfänglichkeit größerer Gruppen
für solche Utopien hängt mit einer bestimmten sozialen
Verwurzelung zusammen; in andere Umgebungen lassen sich Utopien
daher auch viel schlechter und viel langsamer transportieren.
Zu der bisher rein formalen Unterscheidung von Utopie und
Ideologie kommt die Verunklärung der Begriffe infolge
messender und wertender Vorstellungen in der Praxis. Es kommt
darauf an, von welchem weltanschaulichen Standpunkt aus man
den Maßstab ansetzt. So erleben diejenigen, die mit
der bestehenden Ordnung einverstanden sind, diese als wirklich,
während diejenigen, die sie ablehnen, sich bereits an
den tendenziellen Ansätzen der von ihnen gewollten und
durch sie werdenden Lebensordnung orientieren. Dementsprechend
bezeichnen die Vertreter einer bestimmten Wirklichkeit alle
jene Vorstellungen als Utopie, die von ihnen aus gesehen prinzipiell
niemals verwirklicht werden können. (9)
Umgekehrt sind für die Utopisten die Inhalte ihrer Utopie
nicht utopisch, sondern realisierbar. Der Begriff utopisch
kann also immer nur von einer weltanschaulichen Gegenposition
aus gelten.
Darüber hinaus erfolgt die konkrete Bestimmung des Utopischen
nicht nur von einer bestimmten Position her, sondern auch zu
einem bestimmten Zeitpunkt. Aus diesem Grunde ist es möglich,
daß die Utopien von heute zu den Wirklichkeiten von morgen
werden können. Die utopische Vorstellung geht der Entwicklung
voraus. Umgekehrt ist man rückblickend in der Lage, eine
vormalige Utopie beispielsweise als Ideologie, als Täuschungsvorstellung
zu entlarven, wenn sie sich nämlich nicht verwirklicht
hat. In der Verwirklichung liegt ein nachträglicher und
rückwirkender Maßstab zu der Beurteilung von Sachverhalten,
die, solange sie gegenwärtig sind, weitgehend noch dem
Meinungsstreit der jeweiligen Lager unterworfen sind.
Wenn eine klare Differenzierung von Utopie und Ideologie
nicht möglich ist, dann deshalb, weil sie sich gegenseitig
durchsetzen. Beispielsweise war Idee der "Freiheit"
des aufstrebenden Bürgertums vor 200 Jahren zum Teil
eine wirkliche Utopie; sie enthielt Elemente, die das vorangehende
Wirklichkeitsgefüge sprengten und die sich nach der Durchsetzung
dieser Idee auch zum Teil in Wirklichkeit umsetzten. Die Freiheit
im Sinne der Sprengung der zünftigen und ständischen
Gebundenheit, im Sinne der Denk- und Meinungsfreiheit, der
politischen Freiheit und im Sinne des Auslebens des Persönlichkeitsbewußtseins
wurde weitgehend, zumindest mit Blick auf die vorangehende
Gesellschaftsordnung, zur verwirklichbaren Möglichkeit.
Aus heutiger Sicht erkennt man jedoch die ideologischen Elemente
jener Freiheitsidee, die dort haltmachen mußte, wo die
Elemente der dazugehörigen Gleichheitsidee in der später
durchgesetzten Lebensordnung unverwirklichbar blieben.
Die geschichtliche Entwicklung ist nicht die geradlinige
Verwirklichung sich fortsetzender Utopien, sondern nimmt oftmals
ihren Verlauf durch sich bekämpfende Utopien und Gegenutopien.
Nicht die reinen Utopien haben unsere Welt verändert,
aber ihre Existenz wirkte sich stets auch bei den Gegenspielern
aus, die sich an ihr orientierten, wenn auch oft ungewollt
oder gar unbewußt. Diejenigen, die mit der jeweils gegebenen
Wirklichkeit konform gehen und sie erhalten wollen, werden
durch oppositionelle Gegenbewegungen zur Abwehr und damit
zu einer Gegenutopie gezwungen. Ohne diese wechselseitige
Reaktion würde das konservative Lager latent auf der
Ebene des unbewußten Auslebens verharren. So aber bewirkt
der "ideologische Angriff" einer wie auch immer
gearteten aufstrebenden Gruppe ein Reflexivwerden dieser nur
im Leben zur Geltung kommenden Einstellungen und Gehalte.
Angetrieben und angeregt durch die oppositionellen Theorien,
entdeckt das konservative Lager nachträglich seine Idee,
die Gegenutopie. (7/S.199)
Die Form und das Tempo der geistigen Entwicklung in der gesamten
Geschichte wurde auf diese Weise immer von den neu auftretenden
jüngsten Gegenspielern der herrschenden Ordnung bestimmt.
Zwar trat nicht immer nur das Neue als Sieger hervor, während
das Ältere abstarb, aber das Ältere war stets gezwungen,
sich auf die Ebene des neuesten Gegners zu begeben.
Anlaß einer Utopie ist immer die Unzufriedenheit mit
einer gegebenen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Eine gesellschaftliche
Utopie braucht eine äußere Form. Diese Form ist
der Ort bzw. der Nicht-Ort, das Nirgendland, das eine gewisse
städtebauliche und architektonische Gestalt annimmt;
die Sozialutopie wird zur Architekturutopie. Beide, Sozialutopie
und Architekturutopie, sind die dominierenden Utopien in unserem
Bewußtsein. Sie scheinen miteinander verkoppelt zu sein.
Indessen spiegeln die Idealstädte, die wir aus Renaissance
und Barock kennen, keine Utopien wider. Sie sind reine Form,
vor allem, wenn fortifikatorische Maßnahmen im Vordergrund
der Planung standen. Sie reflektieren den Ordnungsgedanken
der Schöpfung, sind also zumeist eine Darstellung des
jeweiligen Weltbildes, eine symbolische Übertragung der
abstrakten Vorstellung von Natur, von Welt und Universum -
sofern sie nicht, wie in den überseeischen Neugründungen,
auf rationale Wirksamkeit reduziert wurden.
Aus der griechischen Klassik sind uns ebenfalls Idealstädte
auf der Basis kosmologischer Ordnungsgedanken bekannt. Das
pythagoräische Grundmuster von Milet ist jedoch darüber
hinaus Ausdruck gewachsener staatlicher Ideale, d.h. der städtebauliche
und architektonische Gestalt annehmenden gelebten Demokratie,
die sich im Geist des Perikles spiegelt. Für kurze Zeit
fand im 5. Jahrhundert v.Chr. das Ideal der griechischen Polisgesellschaft,
einer offenen Gesellschaft (in der das Gemeinwohl über
dem Individualwohl stand), sein formales Äquivalent im
Stadtgrundriß und in der Architektur, charakterisiert
durch ein Straßenraster, egalitäre Eigentumsverhältnisse,
Typenhäuser, eine freie, flexible Stadtmitte sowie Naturverbundenheit,
die sich durch Anpassung an das Gelände äußerte,
im übrigen aber symbolisch gemeint war.
Mit der Rückkehr zur Königsherrschaft in hellenistischer
Zeit erfolgte die politische Entmündigung der griechischen
Stadtstaaten, woraufhin sich das Interesse der neuerlichen
Untertanen zunehmend auf den individuellen Lebensbereich richtete.
Besonderen Anteil an der Diffamierung der Polisstruktur hatten
die Philosophen, allen voran Platon und Aristoteles, die die
Kultur des Abendlandes wie nur wenige historische Persönlichkeiten
geprägt haben. Durch die Staatslehren von Platon und
Aristoteles trat der intellektuell erdachte Idealstaat an
die Stelle der gelebten staatlichen Ideale. Sie stellen sozusagen
die frühesten überlieferten Utopien dar, die wir
heute in ihrer Geschlossenheit und aufgrund ihrer Geschlossenheit
als "Horrorvisionen" empfinden.
Platon entwickelte in seiner Staatslehre ein sogenanntes
aristokratisches System. Die höchste Aufgabe des Staates
sollte seine Selbsterhaltung, sein ethisch bestimmtes politisches
Ziel der vollkommene Mensch im vollkommenen Staat sein. Aus
der natürlichen Ungleichheit der Menschen ergab sich
für Platon gemäß der Rangordnung der Tugenden,
wie Gehorsam, Tapferkeit und Weisheit, eine Rangordnung der
Stände, nämlich Bauern und Handwerker, Krieger und
Beamte sowie Herrscher. Mit Hilfe der Erziehung sollte diese
Art Auslese unterstützt werden; die Erziehung formt den
Menschen in eine bestimmte Richtung.
Der rationale Raster von Milet erhielt in dieser Vision eine
völlig neue Bedeutung: Platon dachte nämlich an
eine klar gegliederte Stadt, da diese gut überwachbar
sei, wobei er selbst allerdings eine konzentrische Struktur
vor Augen hatte. Präzise zu dem hippodamischen System
äußerte er sich nicht. Tatsächlich aber überlieferte
Platon auch den Ort seiner Utopie: Atlantis.
Auf dieser Insel der Glückseligkeit vereinte sich "eine
große, wundervolle Macht von Königen, welcher die
ganze Insel gehorchte sowie viele andere Inseln..." (10/Timaios,
25a) "Jeder einzelne der zehn Könige übte in
seiner Stadt Gewalt über die Bewohner seines Gebietes
und über die meisten Gesetze; er bestrafte und ließ
hinrichten, wen er wollte." (10/Kritias,
119c) Da das wunderbare Herrschergeschlecht göttlicher
Abstammung nach vielen Generationen entartete, mußte
die Insel durch Willen des Zeus im Atlantischen Meer versinken.
Isolation und Geschlossenheit hatten sich bereits in diesem
legendären Idealstaat nicht bewährt.
Léon Kriers utopischer Entwurf bezieht sich direkt
auf Atlantis. Inhaltlich ist damit eine rückwärtsgewandte
Utopie verbunden, die jede technische Entwicklung seit der
industriellen Revolution verwirft und sich allein auf die
Architektur der Antike beschränkt. Wenn wir diese Utopie
der Vergangenheitsbeschwörung in die Zukunft projizieren,
was ja der Sinn einer Utopie ist, dann erahnen wir auch hier
nichts Gutes. Abgesehen von einer ganz massiven Architekturkritik,
die man anführen müßte, ist Krier vorzuwerfen,
daß er die Evolution, den Fortgang der Entwicklung gänzlich
ignoriert. Der Entwicklungsstillstand ist der Schwachpunkt
aller Utopien, wollte man sie als geschlossene Systeme für
geschlossene Gesellschaften in die Realität umsetzen
- als Insel.
Wenngleich wir mit Platons Vorstellungen vom irdischen Glück
nicht unbedingt konform gehen, erkennen wir in seinem Ideal
des kollektiven Wohnens, der Gemeinschaftsverpflegung und
der Abschaffung des Privateigentums soziale Wunschbilder,
die sich in fast allen Epochen der europäischen Geschichte
wiederholen und mehr oder weniger gradlinig auf eine kommunistische
Glückseligkeit zielen.
Dies trifft in frappierend freiheitlicher Form auch für
die bekannte spätmittelalterliche Utopie des Humanisten
Thomas Morus zu, Wortschöpfer und Erfinder der Insel
U-Topia. Mit der Veröffentlichung von "Utopia"
im Jahre 1516 wurde die politische Utopie par excellence geboren.
"Die Organisation dieses Staatswesens hat vor allem diesen
einen Zweck vor Augen, alle Zeit, soweit es die Arbeiten für
die Bedürfnisse der Gesamtheit erlauben, den Bürgern
zur Abstreifung der Knechtschaft des Leibes und zur Befreiung
und Ausbildung des Geistes zugute kommen zu lassen. Denn darin
sehen sie das wahre Glück des Lebens." (8/S.111)
Seine Republik bezeichnete Thomas Morus als "Gemeinwesen".
Sie ist der Entwurf einer Gegenwelt, denn sie hat die oftmals
grausame Wirklichkeit seiner Zeit ganz einfach in ihr Gegenteil
gekehrt: die Diskriminierung, Ausbeutung, Reglementierung,
kirchliche Intoleranz, brutale Strafverfolgung, Geldgier,
Neid und Rache. Nicht eine geheimnisvolle Elite entscheidet
über Recht und Unrecht, über Wissen und Nichtwissen,
sondern alles ist vorhanden und jedem zugänglich. Diese
allgemeine Aufgeklärtheit und geistige Emanzipation in
Utopia gewährleistet mit dem Fehlen von Privateigentum,
daß nicht irgendein Dummkopf, so Morus, das Sagen hat,
nur weil er zufällig mehr Reichtümer besitzt als
andere. (8/S.129)
Thomas Morus vollbrachte mit seiner Utopie das Kunststück,
geltendes Unrecht nach dem Prinzip des Gemeinwohls abzuschaffen,
ohne individuelles Leben totalitär zu verplanen. Obwohl
er sich an Platon orientiert haben soll, unterscheidet Morus
sich dadurch grundlegend von seinem Vorbild, in dessen Idealstaat
Gerechtigkeit durch den Zwang einer herrschenden Philosophenelite
ausgeübt wird. Darüber hinaus, und das ist für
die damalige Zeit von besonderer Bedeutung, hatte Morus mit
seiner Formel den Widerspruch zwischen politischer Realität
und christlicher Lehre drastisch aufgezeichnet. Er entlarvte
die Jenseitsverheißungen als Täuschung und vermochte
auf längere Sicht möglicherweise auch etwas zu bewegen,
denkt man an die verzweifelten Machtkämpfe, die in den
folgenden Jahrhunderten von der Kirche ausgetragen wurden,
oder an die Bauernkriege im 16. Jahrhundert. Allerdings illustriert
die Landkarte von Utopia, daß damals offenbar nur wenige
Menschen für den Idealentwurf von Thomas Morus reif waren.
Er hatte seine utopische Stadt Amaurotum - vermutlich unter
dem Einfluß der Erzählungen Amerigo Vespuccis -
ziemlich exakt als eine viereckig angelegte Anlage mit gleichmäßiger
Blockrandbebauung, dreigeschossig, mit Flachdach und rückwärtigen
Gärten beschrieben; sie besaß nichts von der mittelalterlichen
Romantik der zeitgenössischen Landkarte.
Utopia hat als erste Sozialutopie zu mehreren sozialutopischen
Idealstädten angeregt; die ersten Entwürfe, die
über die paternalistischen und karitativen Institutionen
früherer Jahrhunderte hinausgingen, sind die von Charles
Fourier und Robert Owen, in gewissem Sinne auch von Claude-Nicolas
Ledoux. Sie alle entstanden im Zusammenhang mit der Industrialisierung.
Anstelle der Fürsorge setzten sie die ökonomische
Einheit von Arbeits- und Konsumstätten, deren Planung
von vornherein die gesellschaftliche Geschlossenheit aller
Bewohner im Auge hatte. Aber gerade damit standen sie auch
in scharfem Gegensatz zu den politischen und ökonomischen
Gegebenheiten des industriellen Zeitalters, dem internationalen
Austausch von Ideen und Waren.
Die Architekturutopie wird nicht wie die Sozialutopie als
ein Denkgebäude entworfen. Sie gehorcht den Regeln der
Bilder. Der Kunsthistoriker Adolf Vogt stellte dazu fest,
daß "die voll ausgewachsene, voll auskristallisierte
Sozialutopie auf ganz natürliche Art zur Architekturutopie
wird": wenn der Entwurf zu einem neuartigen Zusammenleben
der Menschen wirklich präzise vorgestellt würde,
dann sei diese Vorstellung notgedrungen auch eine räumliche
Vorstellung - und damit bereits ein Stück architektonische
(resp. städtebauliche) Organisation. Die Sozialutopie
brauche als Hülle, als Verfestigung und Verräumlichung,
um sich selbst darstellen zu können, die entsprechende
Architekturutopie. Erst wenn sich beide entsprechen, sich
ergänzen, erscheine die Utopie als etwas Ganzes. (15/S.28f.)
Es ist sicher kein Zufall, daß fast alle Utopisten
die architektonische Organisation ihrer Orte in Worten derart
beschrieben, daß sich danach eine planimetrische oder
gar stereometrische Darstellung herstellen läßt.
(4/S.39f.) Von Robert
Owens Sozialutopie gibt es präzise Pläne, teilweise
von ihm selbst angefertigt. Die bekannte Stadtansicht von
New Harmony im US-Bundesstaat Indiana ist eine Zeichnung von
Thomas Stedman Whitwell aus dem Jahr 1824, mit der ein adäquater
Schritt von der Sozialutopie zur Architekturutopie vollzogen
wurde, auch wenn die ein oder andere architektonische Form
bekannt und der neue Bautypus noch nicht vollständig
ausgeprägt ist. Immerhin wurde einer selbständigen
Raum- und Körpervorstellung Ausdruck verschafft und die
sichtbare Unterscheidung von herkömmlichen Architekturen,
etwa vom Schloß oder vom Klosterbau, erreicht. Die Sozialutopie
wurde mit der architektonischen Präzisierung nicht nur
illustriert, sondern in erster Linie ganz bewußt sichergestellt.
Architektur bietet ja nicht nur die Funktionen der Unterkunft
und der Selbstdarstellung einer gewissen Interessengruppe,
sondern gewährleistet auch bestimmte Abläufe. Die
Art und Weise der Grundrisse, der Verbindungswege zu den Gemeinschaftseinrichtungen,
der inneren Disposition der Gemeinschaftsräume usw. legen
einen Ablauf und dadurch ein bestimmtes Verhalten nahe, das
sich durch Wiederholung einprägen kann.
Im Fall Fourier erhielt die Utopie die alte, imitierende
Hülle eines konventionellen Barockschlosses, gezeichnet
von Victor Considérant. Neuartig ist lediglich das
Erschließungssystem im Innern des Gebäudes, wo
Galeriestraßen und glasgedeckte Gänge die Wohnungen
mit den Gemeinschaftsräumen verbinden. Insofern ist Fouriers
Sozialutopie nicht zur konsequenten Architekturutopie geworden,
die mit neuen Raumformen auf die neuen Lebens- und Verhaltensformen
zu antworten hätte.
Wenn man nachschaut, was aus den Utopien wird, sobald man
sie zu realisieren versucht, gewinnt man den Eindruck, daß
sie durchweg scheitern. Fouriers Phalanstère wurde
zwar als Familistère (von Godin in Guise) verwirklicht,
aber unter einschneidenden Veränderungen als eine Art
Produktionsgenossenschaft, indem das Unternehmen ganz auf
die Industrie gestützt und das Gemeinschaftsleben abgeschafft
wurde. New Harmony mußte bereits in seinen Anfängen
aufgegeben werden. Das Scheitern dieser Siedlungsexperimente
wird in der modernen Forschung mit ihrem Inseldasein begründet.
"Eine isolierte Gruppe, mögen ihre Mitglieder einen
noch so hohen Grad an Idealismus besitzen, ist nicht in der
Lage, die Gesellschaft, von der sie sich abgekapselt hat,
zu verändern." (2/S.21)
Auch die fiktive Insel Utopia macht dieses Abhängigkeitsverhältnis
deutlich. Utopia ist als ein nur bedingt geschlossenes System
konzipiert. Auslandsreisen sind möglich, Ausländer
werden ebenfalls willkommen geheißen; es herrschen freundschaftliche
Beziehungen zu den Nachbarländern. Dennoch findet kein
nachhaltiger Austausch statt: Handel ist nicht erforderlich
und nicht erwünscht, geistige Anregungen nimmt man gerne
auf, doch eine Veränderung oder Entwicklung des Systems
wird dadurch nicht bewirkt, und da die übrige Welt trotz
gelegentlicher Freundschaftsdienste nicht völlig zum
Guten zu bekehren ist, bleibt Utopia isoliert und unveränderlich.
Der Freiraum, der allen Bürgern gewährt wird, ist
unserem heutigen Verständnis gemäß kein wirklicher
Freiraum. Was fehlt, ist der irrationale Spielraum, der die
Veränderung bringt, der aber auch Kampf und Ungerechtigkeit
bedeuten kann. Dieser Widerspruch legt die ganze Problematik
des Utopiebegriffs offen.
Das Scheitern utopischer Experimente sollte aber nicht allein
damit begründet und beurteilt werden, daß alle
Initiativen für eine Teilreform von einer umfassenden
Gesellschaftsreform abhängig sind. Das würde nämlich
bedeuten, Architektur und Städtebau von der politischen
Diskussion abzutrennen und zur reinen Technik im Dienste der
herrschenden Klasse, sprich der Politik und der Wirtschaft,
absinken zu lassen.
Literatur:
1) Bloch, Ernst: Gesamtausgabe Bd. 5, Das Prinzip Hoffnung,
Frankfurt a.M. 1959 2) Bollerey, Franziska/Kristiana Hartmann:
Kollektives Wohnen. Theorie und Experimente der utopischen
Sozialutopisten Robert Owen (1771-1858) und Charles Fourier
(1772-1837), in: "archithese" 1973 (8) 15-26 ...zurück
3) Freyer, Hans: Die politische Insel. Geschichte der Utopien
von Platon bis zur Gegenwart, Leipzig 1936 4) Gradow, G.A.: Stadt und Lebensweise, Berlin
1971 ...zurück
5) Harbison, Robert: Das Gebaute, das Ungebaute und das Unbaubare.
Auf der Suche nach der architektonischen Bedeutung, Basel/Berlin/Boston
1994
6) El Lissitzky: 1929. Rußland: Architektur für
eine Weltrevolution, Berlin/Frankfurt a.M./Wien 1965 7) Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, Frankfurt
a.M. 1965 (4. Aufl.) ...zurück 8) Morus, Thomas: Utopia, it 1206, Frankfurt
a.M. 1992 ...zurück 9) Nenning, Günther: Das Prinzip Utopie,
in: "Die Zeit" Nr. 1 (31.12.1993) ...zurück 10) Platon, Sämtliche Werke, Bd. 5 (Politikos,
Philebos, Timaios, Kritias), Rowohlts Klassiker 47, Hamburg
1959 ...zurück
11) Schmidt, Arno: Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den
Roßbreiten, Fischer Taschenbuch 9126, Frankfurt a.M.
1965 12) Schmidt, Heinrich: Philosophisches Wörterbuch,
neu bearb. v. Georgi Schischkoff, 21. Aufl., Stuttgart 1982
...zurück
13) Thomsen, Christian W.: Architekturphantasien. Von Babylon
bis zur virtuellen Architektur, München 1994
14) Vercelloni, Virgilio: Europäische Stadtutopien. Ein
historischer Atlas, München 1994 15) Vogt, Adolf Max: Russische und französische
Revolutions-Architektur 1917 / 1789. Zur Einwirkung des Marxismus
und des Newtonismus auf die Bauweise, Köln 1974 ...zurück