Da höre ich es wieder, das sehnsuchtsvolle metallische
Klimpern der Segelbootmasten und Möwengeschrei. Einsam
ist es an der bretonischen Kanalküste außerhalb
der Saison, windig und grau. Eine jubelnde Schulklasse rennt
aufgeregt über die Promenade zum Meer, das sich weit
hinter den Strand zurückgezogen hat. Dort draußen
graben ein paar versprengte Punkte nach Muscheln suchend im
Schlick. Es ist Ebbe, so niedrig wie fast nirgendwo sonst,
hier am Bosporus des Okzidents, wie man das Mündungsbecken
der Rance einmal selbstbewusst getauft hat: hüben der
elegant-spritzige Badeort Dinard, drüben die misstrauisch
wirkende Korsarenfestung von Saint-Malo.
Haupt- und Nebensaison unterscheidet
man in Dinard erst, seitdem die arbeitende Klasse mit geregeltem
Urlaub gesegnet ist. Zuvor, in den „glücklicheren“
Tagen der Belle Epoque, trafen sich Müßiggänger
von Rang und Namen zu jeder Jahreszeit an diesem Flecken.
Das milde Klima des Golfstroms machte es möglich. Sie
hinterließen Spuren, die Schönen und Reichen von
damals, und verliehen dem noch heute überaus beliebten
Ort seinen so distinguierten Charme mit einer prachtvollen
Villenarchitektur, die für französische Badeorte
ebenso charakteristisch wie außergewöhnlich ist.
Mondän, schrullig oder innovativ zeugt sie vom modernen
Lebensgefühl einer aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaftsschicht.
Das kitschige Stadtmuseum will mit seinen festungsartigen
Türmen gar nicht so recht in dieses Bild passen. Ich
werde vom Direktor persönlich empfangen, einem eifrigen
Heimatforscher, der mir sogleich die komplizierten Verstrickungen
unter Dinards berühmten und weniger berühmten Badegästen
anvertraut, während wir die vergilbte Fotogalerie aus
Urgroßvaters Zeiten betrachten.
Dinard war zu Beginn der industriellen Revolution eine durch
Landwirtschaft wohlhabend gewordene Kommune, dazu fortschrittlich
und weltoffen. Viele ihrer Söhne bereisten als Schiffskapitäne
die Weltmeere und brachten neben Neuigkeiten mediterrane Pflanzenpracht
mit nach Hause. Als um die Mitte des 19. Jahrhunderts erste
ausländische Touristen aus Großbritannien das winzige
Dorf für sich entdeckten, war die ansässige Bourgeoisie
aufgeschlossen genug, mit dem Bau kleiner Ferienhäuser
zu beginnen. Die Dampfschifffahrt verursachte 1858 einen gewaltigen
Entwicklungsschub. Nun waren es die Fremden selbst, eine illustre
Gesellschaft von kosmopoliten Bonvivants, englischen Altkolonialisten
und steinreichen Industriellen aus Amerika, die ihre eigenen
Villen errichteten, wahrhaftige Paläste.
Die Einladung zur gemeinsamen Ortsbesichtigung nehme ich
gerne an. Durch eine köstliche salzhaltige Meeresbrise
gelangen wir zu der bezaubernden Küstenbebauung von La
Malouine. Einer Anekdote zufolge wurde dieser Landstrich von
dem Belgier Albert Lacroix erschlossen. Der Verleger des großen
Victor Hugo hatte seine Fähre verpasst, die ihn zu dem
im Exil lebenden Dichter nach Jersey bringen sollte, und verbrachte
die Nacht bei einem Fischer im Dorf. Tags darauf erwarb er
kurzerhand den wilden Baugrund mit Blick auf die Befestigung
von Saint-Malo. „Ja, und dann ging es unaufhaltsam weiter,“
erfahre ich aus kundiger Quelle. Am malerisch zwischen den
Steilklippen von La Malouine und der Halbinsel Moulinet gelegenen
Strand L'Ecluse entstand das erste Kasino weit und breit.
Es wurde auf Holzpfählen errichtet und von der Flut unterspült.
Hinzu kamen das veritable Grand Hotel und eine Badeanstalt
mit rollenden Kabinen.
Bis zur Jahrhundertwende
avancierte „Dinard la belle“ zum exklusivsten
Badeort Frankreichs, obendrein mit den modernsten technischen
Standards des Landes ausgerüstet. Dort, wo wir heute
so gemächlich vor uns hinschlendern, flanierten dereinst
weltgewandte Gäste aus Madrid und Istanbul, Bosten und
Wien; eine russische Familie soll sogar mit Spezialwaggon
aus Sankt Petersburg angereist sein. Um so herber war die
Enttäuschung, als der für das Frühjahr 1870
angekündigte Besuch von Kaiser Napoleon II. und seiner
Gemahlin Eugénie ausfallen musste, weiß mein
Begleiter zu berichten. Dennoch werden die Annalen des Ortes
von den Namen zahlreicher bekannter Persönlichkeiten
geschmückt. Richard Wagner soll Gast bei Madame Judith
Gautier gewesen sein, die sich rührig um die Versammlung
mittelloser Künstler und Intellektueller in ihrem Hause
bemühte. Ein Vierteljahrhundert später, so heißt
es, ließ Claude Debussy sich in Dinard zu seiner symphonischen
Dichtung La Mer inspirieren. Und Pablo Picasso verbrachte
mit seiner Familie bescheidene Ferien in einer kleinen Mietwohnung.
„Schade nur, daß Le Crystal nicht mehr ist“,
bedauert unser liebenswerter Museumsdirektor. Das legendäre
Hotel mit Kasino aus dem Jahr 1892 stand direkt am Strand
und war fast vollständig verglast. Von seinem Aussichtsturm
konnte man die gesamte Bucht überblicken, und sein berühmtes
Eiscafé war beliebter Treffpunkt nicht nur für
Künstler. Le Crystal wurde nach 85 Jahren zugunsten eines
Hotelneubaus abgerissen. Jetzt bereut man diese voreilige
Tat, doch glücklicherweise halten sich vergleichbare
Bausünden in Grenzen. Die Perle der Côte d'Emeraude
wird ihrem exklusiven Ruf noch heute gerecht. Für die
Rückreise nach Saint-Malo wähle ich das wankende
Linienboot. Etwas wehmütig werde ich schon, als ich die
stolz aufragenden Villen allmählich schwinden sehe.
Anreise: Mit dem Flugzeug oder Zug nach
Paris, weiter mit dem TGV nach Rennes, Regionalbahn nach Saint-Malo,
Linienbus nach Dinard. Literatur: Bretagne. DuMont Richtig Reisen, Ostfildern:
DuMont Reiseverlag, 3., aktual. Aufl. 2004. - Dinard. Ein
Spaziergang durch die Villen von La Malouine (Fotodokumentation),
hrsg. v. J. P. Kleihues, mit einem Beitrag von Andrea Mesecke,
Köln: Walther König 1999. Information:Maison de la France, Zeppelinallee 37, D-60325 Frankfurt am Main.